M. Cattaruzza: Sozialisten an der Adria

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Titel
Sozialisten an der Adria. Plurinationale Arbeiterbewegung in der Habsburgermonarchie


Autor(en)
Cattaruzza, Marina
Erschienen
Berlin 2011: Duncker & Humblot
Anzahl Seiten
180 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Carlo Moos, Historisches Seminar, Abt. Neuzeit, Universität Zürich

Der eher schmale, aber in jeder Beziehung dichte Band ist die insgesamt gutgelungene Übersetzung eines 1998 unter dem Titel «Socialismo adriatico» erschienenen italienischen Originals (2. Auflage 2001), das sich in vielschichtiger Weise mit einem zentralen Thema der späten Habsburgermonarchie befasste: den sich zusehends verstärkenden Nationalismen und dem von ihnen generierten Auseinanderbrechen einer ursprünglich internationalistisch ausgerichteten Partei wie der sozialdemokratischen. Dass sich die aus Triest stammende und in Bern wirkende Autorin beispielhaft mit der südwestlichen Peripherie der ausgehenden Doppelmonarchie auseinandersetzt, dürfte für sie selber naheliegend gewesen sein und erweist sich für den Leser als Glücksfall, weil dieses bisher wenig bearbeitete heute auf drei Staaten verteilte Gebiet die Probleme der Spätzeit des Habsburgerreiches wie in einem Brennspiegel besonders scharf konturiert.

Bei den Adriagebieten der Monarchie geht es am Rand um das Herzogtum Krain, vor allem aber um das Küstenland mit Görz und Gradiska, Triest und Istrien sowie um Dalmatien, das heisst um eine Zone, die an sozialen und nationalen Mischungen alles aufweist, was man sich wünschen kann: extreme regionale Unterschiede zwischen Dalmatien und Istrien sowie zwischen Hinterland und Küsten, mit Landarbeitern und Kleinbauern in den ländlichen Gebieten und bürgerlichen Mittelschichten und Proletariern in den Städten, aus welchen vor allem die Hafenstadt Triest und der Kriegshafen Pola herausragen. Im thematischen Kontext der vorliegenden Studie geht es aber insbesondere um die Unterschiede zwischen den verschiedenen Richtungen der Adria-Sozialisten, den italienischsprachigen, den slowenischsprachigen, den kroatischsprachigen, auch den deutschsprachigen, die trotz einer durchaus angestrebten und teilweise sogar praktizierten Zusammenarbeit letztlich alle in Richtung der Nationalitätenkämpfe auseinanderdrifteten.

Von besonderem Interesse dürfte sein, dass sich an der Adria sämtliche Schattierungen von nationalistischen und internationalistischen Sozialismen zeigen und von der Verfasserin auf breiter Literatur- und Quellenbasis, zu der auch Triestiner Polizeiberichte gehören, akribisch herausgearbeitet werden. Vor allem fällt die Sonderstellung der italienischsprachigen Sozialdemokratie in Triest auf, die sich – entgegen dem, was man erwarten würde – bis zuletzt stark an die Parteizentrale in Wien anlehnte und einen rigorosen Internationalismus manifestierte (S. 172), wie man ihn sonst fast nirgends findet. Demgegenüber verhielten sich die Slowenen und Kroaten auch als Sozialisten ähnlich wie etwa ihre ruthenischen Genossen. Die Verfasserin erklärt die bemerkenswerte Sonderstellung der Triestiner einleuchtend mit einer Reihe von Faktoren, deren wohl wichtigster war, dass Triest als eine der wenigen Städte der Monarchie dank ihren Verkehrsverbindungen und als Verwaltungszentrum eine supranationale Funktion hatte, von der herab man sich als «Österreicher» fühlte und mit einer gewissen Verachtung beispielsweise auf die Sozialisten im Königreich Italien hinuntersah. (Dass die Übersetzerin in diesem Zusammenhang immer wieder den Terminus «reichsitalienisch» verwendet, erscheint allerdings etwas befremdlich.)

Insofern gehörten die Triestiner Sozialdemokraten zu jenen (wenigen), die den internationalistischen Vorstellungen der austromarxistischen Theoretiker Karl Renner und Otto Bauer am nächsten kamen. Indessen zeigt gerade diese Ausnahme, dass ansonsten selbst die sozialistische Arbeiterbewegung in der Stunde der Not keineswegs als «zentripetale» Kraft fungierte, welche die Monarchie hätte retten können (oder dies wenigstens gewollt hätte), sondern sich in nationaler Hinsicht im Endeffekt nicht anders verhielt als ihre nationalistisch eingestellten bürgerlich-liberalen oder klerikal-christlich-sozialen Konkurrenten und nach der erfolgreichen Kampagne für die 1907 erfolgte Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts letztlich ebenso zentrifugal wirkte. Dies traf nicht nur paradigmatisch auf die Tschechen zu, sondern neben den polnischen und ruthenischen auch auf die italienischen Sozialdemokraten im Trentino und in Istrien und – nach der Annexion Bosniens – auch auf ihre slowenischen Genossen (S. 81).

Den Überblick über die Gedankengänge der ungewöhnlich inhaltsreichen Studie zu bewahren, ist wegen ihres Detailreichtums nicht immer ganz einfach, weshalb es sich empfehlen dürfte, nach der Einleitung zunächst die wohltuend konzisen (im italienischen Original noch fehlenden) Schlussfolgerungen zu lesen. Der eigentliche Wert der Schrift liegt indessen darin, dass sie im kleinteiligen Spiegel einer sehr heterogenen Region die grossen Themen der Spätzeit der Monarchie anspricht – so vor allem die Vielfalt der Minderheitensituationen, deren immer handfester werdende Aktualität ein Haupt-Kennzeichen ihrer letzten Jahre war – und auf diese Weise aufzuzeigen vermag, weshalb es 1918 in der Tat keine Rettung für das Habsburgerreich mehr geben konnte.

Zitierweise:
Carlo Moos: Rezension zu: Marina Cattaruzza: Sozialisten an der Adria. Plurinationale Arbeiterbewegung in der Habsburgermonarchie. Berlin, Duncker & Humblot, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S.322- 323.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S.322- 323.

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